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Gebaute Gedankenspiele

In seinem Buch Das Gebaute, das Ungebaute und das Unbaubare weist der Kunst- und Architekturhistoriker Robert Harbison darauf hin, dass >>auch die handfestesten Tatsachen der Architektur bis zu einem gewissen Grad fiktional sind. Wie viele andere Werke der Kunst haben auch Gebäude etwas Virtuelles, etwas Imaginäres<<. Zahlreiche, zum Teil sehr bekannte Gebäude existieren überhaupt nur imaginär. Sie haben nie den Weg vom Zeichentisch des Architekten in die physische Realität gemacht, wie fast alle Visionen Giovanni Battista Piranesis oder der >>Revolutionsarchitekten<< Étienne-Louis Boullée und Claude-Nicolas Ledoux. Oder es gibt Architektur, die gar nicht dafur gebaut wurde, ein nutzbares Gebäude zu sein, sondern die eher ein Gedankenspiel manifestiert, etwa eine kunstliche Ruine in einem Landschaftsgarten. Ein solches manifest gewordenes Gedankenspiel ist auch das im Wewerka Pavillon realisierte Projekt von Ail Hwang und Timo Panzer. In den ansonsten offenen, rundum verglasten Raum stellten sie, auf dem Grundriss einer Wohnung basierend, ein System aus Trockenbauwänden. Die Wände teilten die einzelnen Räume ab, es gab Durchgänge, aber keine Türen, und nach oben waren sie offen und gaben den Blick auf die hohe Decke des Pavillons frei. Dieser scheinbar klare und eindeutige Eingriff entpuppte sich als unerwartet komplex und auf vielen Ebenen lesbar, sodass man eigentlich nicht von einem Gedankenspiel sprechen sollte, sondern von mehreren, die miteinander verknüpft sind.
Es beginnt schon mit dem Titel, Hausnummer 42, der darauf verweist, dass der Wewerka Pavillon ein Gebäude mit einer offiziellen Adresse sein könnte, nämlich Annette-Allee 42. Handelte es sich um eine zum Kauf oder zur Miete angebotene Immobilie, wäre sie wohl nicht billig. Solch eine exklusive Lage am Aasee ist sicher begehrt. Ein Gedankenspiel besteht also darin, sich vorzustellen, dass die leeren, weißen Räume auf ihre potenziellen zukünftigen Bewohner warten, die sich hier zum vereinbarten Termin für eine Wohnungsbesichtigung einfinden.

Ein zweites beruht auf dem möglichen Vorschlag, den normalerweise offenen Ausstellungsraum, der sich vor allem für Installationen und direkte ortsspezifische Auseinandersetzungen mit dem Gebäude selbst eignet, mit ausreichend Präsentationsfläche für Gemälde, Fotografien, Zeichnungen oder auf Bildschirmen gezeigten Filmen zu versorgen. Damit könnten in Zukunft auch Künstler hier ausstellen, ohne sich eigens für den Ort etwas Neues ausdenken zu müssen. Dieses Gedankenspiel wurde an anderem Ort eigentlich schon realisiert. Ail Hwang und Timo Panzer errichteten die Wände mit exakt demselben Grundriss auch für den Rundgang an der Kunstakademie Münster im Februar 2011 in der Klasse von Maik und Dirk Löbbert. Damit wurde ihr Wandsystem zum Display für die ausgestellten Werke der Kommilitonen. Damit wird aus einem Gedankenspiel ein Realisationsspiel: Was geschieht mit einer architektonischen Intervention, die für einen bestimmten Ort und auf seine Abmessungen hin bezogen ist, wenn sie l: 1 an einem anderen Ort errichtet wird?
Das vielleicht wichtigste Gedankenspiel besteht allerdings darin, sich vorzustellen, dass der Ausstellungsraum das eigentliche Kunstwerk ist. Diese Vorstellung ist nicht neu. So kennen wir sie durch Brian O'Dohertys wunderbare Beobachtungen zum White Cube, den neutralen, weiß gestrichenen Ausstellungsraum, den der Autor für >>das<< archetypische Kunstwerk der Moderne hält - grundlegender als alles, was in ihm gezeigt wird.
Die Wände, die Ail Hwang und Timo Panzer in den Wewerka Pavillon gestellt haben, sind zwar kein geschlossener White Cube, aber treten gleichsam an die Stelle der Kunst, die an ihnen hängen oder vor ihnen stehen könnte. Sie sind selbst die Skulptur, die innerhalb der gläsernen Wände des Wewerka Pavillons ausgestellt ist, der damit gleichzeitig auch in seiner skulpturalen Qualität hervorgehoben wird.
Damit gilt auch hier, was einer der berühmtesten Grenzgänger zwischen Kunst und Architektur, Dan Graham, über seine Alteration to a Suburban House (1978) schrieb: >>The house can be read alternatively
as art or as architecture.«

 

Robert Harbison,

Das Gebäude, das Ungebaute und das unbaubare.

Auf der Suche nach der architektonischen Bedeutung, Basel, Berlin und Boston 1994, S.7.

Ludwig Seyfarth

 

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